Thomas von Aquin (1225-1274):

Regeln zur Erreichung des diesseitigen und jenseitigen Lebenszieles

Der Mensch hat ein Ziel, dem sein ganzes Leben und sein Handeln zustrebt, denn er handelt nach seiner Vernunft, und diese kann offensichtlich nur im Hinblick auf ein Ziel tätig sein. Die Art und Weise, in der die Menschen ihr gefasstes Ziel zu erreichen suchen, ist verschieden; schon die Verschiedenheit menschlicher Bestrebungen und menschlichen Handelns bringt das zum Ausdruck. Es braucht der Mensch also etwas, das ihm den geraden Weg zum Ziel bestimmt. Von Natur aus ist ihm so das Licht der Vernunft eingepflanzt, dass er dadurch in seinem Handeln zum Ziel geführt werde.
   Wäre es die Bestimmung des Menschen, wie viele Tiere vereinzelt zu leben, würde er keiner anderen Leitung bedürfen, um sein Ziel zu erreichen; ein jeder wäre sein eigener König, und nur Gott würde als höchster Herrscher über ihn gebieten, insoweit er sich selbst durch das ihm geschenkte Licht der Vernunft in seinen Handlungen leiten lassen würde. Es ist aber die natürliche Bestimmung des Menschen, das für gemeinschaftliches und staatliches Leben erschaffene Geschöpf zu sein, das gesellig lebt, weit mehr als alle anderen Lebewesen. Schon die Notwendigkeit der menschlichen Natur gibt dafür die Erklärung. Anderen Geschöpfen hat die Natur die Nahrung bereitgestellt, die Bedeckung der Haare, Mittel zur Verteidigung, wie die Zähne, Hörner, Krallen, oder doch die Möglichkeit geschenkt, sich dem Gegner durch schnelle Flucht zu entziehen. Der Mensch aber ist mit keinem dieser Geschenke der Natur gerüstet, statt ihrer aller ist ihm die Vernunft gegeben, damit er, von ihr geleitet, imstande sei, sie sich selbst durch die Arbeit seiner Hände zu verschaffen. Aber um diese Aufgabe zu erfüllen, reicht die Kraft des einzelnen nicht hin. Auf sich allein gestellt, wäre kein Mensch imstande, das Leben so zu führen, dass er seinen Zweck erreicht. So ist es also der Natur entsprechend, mit vielen gesellig zu leben. [...]

Wie die Gründung einer Stadt oder eines Reiches in angemessener Weise nach der Erschaffung der Welt bestimmt werden kann, so ist auch der Grundsatz ihrer Regierung von der Art, in der die Welt regiert wird, abzuleiten.
   Wir müssen uns zuerst vor Augen halten, dass das Wesen der Regierung eben darin besteht, das, was sie führt, in entsprechender Weise zu dem geforderten Ziele zu bringen. So sagt man, ein Schiff wird gelenkt, wenn es durch den Fleiß des Steuermanns auf dem richtigen Wege unversehrt in den Hafen geführt wird. Wenn also etwas einem Ziel, das außer ihm liegt, zugelenkt wird, wie das Schiff dem Hafen, so wird es zur Pflicht des Steuermanns gehören, nicht nur die Sache in sich selbst unversehrt zu bewahren, sondern sie darüber hinaus auch zu ihrem Ziel zu führen. Handelt es sich freilich um solche Dinge, deren Zweck nicht außer ihnen selbst liegt, so hätte sich die Aufmerksamkeit des Lenkers allein darauf zu richten, jenes Ding in seiner Vollkommenheit ohne Schaden zu erhalten. Und obwohl nach Gott, der das letzte Ziel aller Dinge ist, nichts derartiges zu finden ist, so wird doch von vielen in verschiedener Art auf das Mühe verwendet, was einem außenliegenden Zweck zugeordnet wird. Da wird etwa einer sein, der dafür Sorge trägt, dass eine Sache in ihrem Wesen erhalten bleibt, und ein anderer wieder, der darauf sieht, dass sie zu erhöhter Vollkommenheit gelangt, wie es ja auch bei dem Schiff, von dem der Grundsatz des Regierens abgeleitet wird, klar zutage tritt. Der Zimmermann hat die Sorge der Wiederherstellung, wenn etwas an dem Schiffe beschädigt worden ist. Der Schiffer aber hat seine Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass er das Schiff in den Hafen führt. So ist es auch beim Menschen. Der Arzt sorgt, dass das Leben des Menschen gesund bleibe, der Wirtschafter, dass aller Lebensbedarf ausreichend gedeckt wird, der Gelehrte, dass er die Wahrheit erkennt, der sittliche Führer des Volkes aber, dass es nach den richtigen Grundsätzen lebt.
   Wäre der Mensch nun nicht zu einem Gut bestimmt, das jenseits dieser Dinge liegt, so würden sie für ihn voll genügen. Nun gibt es aber ein Gut, das außer dem Menschen liegt, solange er als Sterblicher lebt: die höchste Seligkeit, die er sich in der Schau Gottes nach seinem Tode erhofft. Denn wie der Apostel sagt: »Solange unsere Seele im Körper gefangen ist, wandern wir ferne vom Herrn in der Fremde.« Daher bedarf der Christ, dem jene Glückseligkeit durch das Blut Christi erworben wurde und der für ihre Erlangung die Bürgschaft des Heiligen Geistes empfangen hat, einer geistlichen Fürsorge, durch die er in den Hafen des ewigen Heils geführt wird. Diese Fürsorge wird dem Gläubigen durch die Diener der Kirche Christi erwiesen.
   Nun muss aber das Urteil über das letzte Ziel der ganzen Gesellschaft dasselbe wie über das Endziel des einzelnen sein. Wenn also das Endziel des Menschen ein Gut wäre, das in ihm selbst liegt, so wäre es gleicherweise das Endziel für die Regierung der Gesellschaft, dieses Gut zu erlangen und zu bewahren. Wäre so bei dem einzelnen oder der Gesellschaft das körperliche Dasein und die Gesundheit des Leibes der letzte Zweck, so fiele das Amt dem Arzt zu. Wäre es aber Überfluss an anderen Gütern, so wäre ein Kenner der Wirtschaft der Führer der Gesellschaft. Wäre schließlich das Gut eine Erkenntnis der Wahrheit von solcher Art, dass es die vielen zu erlangen vermöchten, wäre das Amt des Königs das eines Gelehrten. Nun ist es aber nach allem Anschein das Endziel der zu gemeinsamem Leben vereinigten Gesellschaft, nach der Tugend zu leben. Denn dazu begründen die Menschen eine Gemeinschaft, dass sie nun vereint gut leben, was jeder im Leben als einzelner nicht erreichen kann. Gut leben aber heißt leben, wie es die Tugend verlangt.
   So ist das Leben nach der Tugend das Endziel menschlicher Gemeinschaft. Ein Zeichen dafür ist es, dass nur diejenigen Glieder einer in Gemeinschaft verbundenen Gesellschaft sind, die einander wechselseitig zu dem guten Leben die Hilfe der Gemeinschaft leisten. Denn wenn sich die Menschen allein des bloßen Lebens willen zusammenschließen wollten, so wären auch Tiere und Sklaven ein Teil der staatlichen Gemeinschaft. Wenn sie sich wieder nur, um Reichtümer zu erwerben, vereinigen würden, so müssten alle, die in gleicher Weise am wirtschaftlichen Verkehr interessiert sind, zu einem Staate gehören, denn wir sehen es ja, dass immer nur die als eine staatliche Gemeinschaft angesprochen werden, die unter denselben Gesetzen und von derselben Führung zur guten Lebensführung geleitet werden. Wenn aber der Mensch durch ein Leben nach der Tugend zu einem höheren Ziel gelenkt wird, das im Anschauen Gottes beschlossen liegt, wie wir es schon dargelegt haben, so muss das Ziel der menschlichen Gesellschaft dasselbe wie das eines einzelnen sein. Nun ist es aber nicht das letzte Endziel einer in Gemeinschaft verbundenen Gesellschaft, bloß nach der Tugend zu leben, sondern vielmehr durch dieses tugendvolle Leben in den Genuss der göttlichen Verheißung zu gelangen. Wenn man nun durch die Kraft der menschlichen Natur zu diesem Ziel gelangen könnte, so wäre es notwendigerweise Aufgabe des Königs, die Menschen dahin zu führen. Denn wir nehmen an, dass als König eben der bezeichnet wird, dem die höchste Leitung in den menschlichen Dingen anvertraut wird. Um so höher ist aber eine Regierung, je höher das Ziel ist, auf das sie sich einstellt.
   Denn es zeigt sich immer, dass derjenige, dem die Erfüllung des höchsten Zieles bestimmt ist, über alle anderen die Führung hat, die bei dem, was dazu hinführt, am Werke sind. So schreibt der Seefahrer, der die Fahrt des Schiffes bestimmt, dem Erbauer des Schiffes vor, wie er das Schiff herstellen muss, damit es für die Fahrt geeignet ist, und der Bürger, der die Waffen verwendet, dem Schmied, wie er sie herzustellen hat. Da aber der Mensch das Ziel, in den Genuss der göttlichen Verheißungen zu gelangen, nicht durch menschliche Tugend, sondern durch eine von Gott verliehene Kraft erreicht, wie es das Wort des Apostels: »Die Gnade Gottes ist das ewige Leben«, verkündet, so wird es göttlicher und nicht menschlicher Führung zukommen, uns zu diesem Ziele zu bringen. Also gehört eine Führung dieser Art zu dem Amt eines Königs, der nicht nur Mensch, sondern auch Gott ist, also zum Amt unseres Herrn Jesu Christi, der alle Menschen zu Kindern Gottes erhoben und sie so in die himmlische Herrlichkeit geführt hat.
   Denn das ist die ihm übertragene Herrschaft, die nicht zugrunde gehen wird und um deretwillen der Heiland von der Heiligen Schrift nicht nur Priester, sondern auch König genannt wird, wie Jeremia sagt: »Es wird ein König herrschen, und er wird voll Weisheit sein.« Von ihm leitet sich nun das königliche Priestertum ab, und was weit mehr bedeutet, alle Gläubigen, soweit sie Glieder Christi sind, werden darum Könige und Priester genannt. Das Amt dieses Königtums ist, damit das Reich des Geistes vom Irdischen geschieden sei, nicht den Königen der Erde, sondern den Priestern überantwortet worden und vor allem dem höchsten Priester, dem Nachfolger Petri, dem irdischen Stellvertreter Christi, dem Papst zu Rom, dem alle Könige des christlichen Volkes untergeben sein müssen wie Jesus Christus dem Herrn.
   Denn so müssen dem, der das letzte Ziel zu besorgen hat, alle diejenigen unterworfen sein, denen die Sorge um die Vorziele obliegt, und sie müssen sich durch sein Gebot lenken lassen. Weil aber bei den Heiden das Priestertum und die gesamte Gottesverehrung auf die Erwerbung zeitlicher Güter gerichtet war, die alle auf das äußere Gemeinwohl hinlenken, wofür die Sorge auf den Schultern des Königs ruht, waren ganz sinngemäß die Priester der Heiden ihren Königen unterstellt. Und weil auch im Alten Testament irdische Güter - freilich nicht als von Dämonen, sondern dem frommen Volk vom wahren Gott zu spendende Gaben - verheißen wurden, liest man dort, dass die Priester unter der Herrschaft der Könige standen.
   Im Neuen Testament aber steht das Priestertum, durch das die Menschen zu den Gütern des Himmels gebracht werden, höher, und im Gesetz, das Christus gab, müssen die Könige den Priestern unterworfen sein. [...]

Wie das richtige Leben, das die Menschen auf Erden führen, auf jenes Leben, das wir im Himmel voll Seligkeit erhoffen, gleichsam als dem Endziel hingeordnet ist, so sind alle die Teilgüter, die von den Menschen besorgt werden, wie Reichtum, Gewinn, Gesundheit, Beredsamkeit oder Bildung, auf das allgemeine Wohl hingeordnet. Wenn nun, wie gesagt, der, der für das letzte Ziel Sorge zu tragen hat, denen, die alles auf dieses Ziel Hingeordnete besorgen, übergeordnet sein und sie mit seinem Befehl lenken muss, geht daraus klar hervor, dass der König, ebenso wie er sich in den Dingen jener Herrschaft und Führung, die durch das Amt der Priester erfolgt, unterwerfen, so anderseits allen Ämtern menschlicher Herrschaft vorstehen und sie durch seine Anordnung leiten muss.
   Wem immer aber es obliegt, etwas, das auf etwas anderes als sein Ziel hingeordnet ist, einer Vollendung näherzubringen, der hat darauf zu achten, dass sein Werk diesem Ziele entspricht. So macht der Schmied ein Schwert, damit es in der Schlacht seine Aufgabe erfüllt, und der Baumeister muss den Bau eines Hauses so anordnen, dass es zur Bewohnung geeignet ist.
   Da also der letzte Zweck eines guten Lebens, das wir jetzt führen, die himmlische Seligkeit ist, so gehört es zu dem Amt eines Königs, für ein gutes Leben des Volkes nach der Erwägung zu sorgen, inwieweit ihm zur Erreichung der himmlischen Seligkeit Bedeutung zukommt, damit er, was dazu förderlich ist, anordnet und das Gegenteil, soweit das eben möglich ist, verbietet. Was aber der Weg zur wahren Glückseligkeit ist und was die Hindernisse sind, die sich vor ihr auftürmen, das kann er aus der Heiligen Schrift erkennen, die zu lehren in die Aufgabe des Priesters fällt, wie es aus Maleachi hervorgeht: »Die Lippen des Priesters sollen Hüter des Wissens sein, und aus seinem Munde sollen sie das Gesetz erfragen.« Und so gebietet auch der Herr: »Sobald der König auf dem Thron seines Reiches sitzt, soll er sich die zwölf Gebote des Gesetzes, das er von einem Priester des Stammes der Leviten erhält, in eine Rolle abschreiben. Und er soll sie mit sich tragen und alle Tage seines Lebens darin lesen, damit er lernt, den Herrn, seinen Gott, zu fürchten und seine Worte und Gebräuche, wie sie im Gesetz vorgeschrieben sind, hütend zu bewahren.« Der König muss so, im göttlichen Gesetz wohlbewandert, seinen Eifer vor allem darauf richten, in welcher Weise das ihm untergebene Volk ein gutes Leben führt. Dieses Bestreben zerfällt in dreierlei: Erstens geht es darauf, in dem geführten Volk die Grundlagen für ein gutes Leben zu schaffen, zweitens das so Gegründete zu bewahren und drittens das Bewahrte zu immer Besserem zu heben.
   Damit ein einzelner ein gutes Leben führt, wird zweierlei gefordert: Das eine, Hauptsächliche, ist das Handeln nach der Tugend (denn die Tugend ist es, die das Wesen des »guten Lebens« ausmacht) und das zweite, mehr Nebensächliche und gleichsam als Hilfsmittel Anzusehende, das genügende Vorhandensein materieller Güter, deren Gebrauch zu einem Akt der Tugend notwendig ist. Im Menschen wird die Einheit durch die Natur bewirkt, die Einheit der Gesellschaft aber, die Friede heißt, muss erst durch die Bemühung des Führers bewirkt werden.
   Mithin ist dreierlei erforderlich, um ein gutes Leben der Gesellschaft zu begründen. Erstens, dass die Gesellschaft zu der Einheit des Friedens gebracht, und zweitens, dass die so durch das Band des Friedens verknüpfte Gesellschaft dazu gelenkt werde, ein gutes Leben zu führen. Wie nämlich der Mensch das nicht tun könnte, dürfte er nicht die Einheit aller seiner Teile voraussetzen, so ist sich auch die menschliche Gesellschaft, die der Einheit des Friedens entbehrt und mit sich selbst im Streit liegt, selbst im Wege, um ein gutes Leben zu führen. Drittens aber tut es not, dass durch die Bemühung des Herrschers eine genügende Menge der anderen Güter, die zu einem guten Leben notwendig sind, vorhanden ist. Sind nun also durch die Tätigkeit des Königs in der Gesellschaft die Grundlagen für ein gutes Leben geschaffen, so ist es das nächste, dass er seine Bemühungen darauf richtet, sie jetzt auch zu erhalten. [...]

Die Definition dessen, was ein Gesetz ausmacht, ist durch vier Merkmale bestimmt: Ein Gesetz ist eine Anordnung der Vernunft im Hinblick auf das Gemeinwohl, erlassen und öffentlich verkündet von demjenigen, der für die betreffende Gemeinschaft zu sorgen hat. [...]

So ist ein Gesetz nichts anderes als eine Regel der praktischen Vernunft, erlassen von dem Oberhaupt einer vollkommenen Gemeinschaft. Vorausgesetzt, die Welt unterliegt einer göttlichen Vorsehung, so muss offensichtlich die große Einheit, die das Universum bildet, durch die Vernunft Gottes geleitet werden. Und deshalb hat jener Regierungsplan aller Dinge, wie er in Gott als dem Oberhaupt des Universums existiert, die Form eines Gesetzes. Weil aber die göttliche Vernunft nicht in zeitlichen, sondern in ewigen Begriffen denkt, muss man dieses Gesetz als ein ewiges Gesetz bezeichnen. [...]

Da alle Dinge und Geschöpfe, die der göttlichen Vorsehung unterliegen, vom ewigen Gesetz geleitet und bestimmt werden, haben sie auch offensichtlich alle in irgendeiner Weise am ewigen Gesetz Anteil und gewinnen aus ihm die Neigung zu den ihnen eigenen Handlungen und Zielen. Unter allen Geschöpfen sind die vernunftbegabten Geschöpfe der göttlichen Vorsehung in einer besonderen Weise unterstellt; denn sie nehmen an dieser Vorsehung teil, insofern sie selbst für sich und andere planend tätig werden können. Auf diese Weise haben sie Anteil an der ewigen Vernunft, durch die sie die natürliche Neigung zu den ihnen angemessenen Handlungen und Zielen besitzen. Es ist diese Teilhabe vernunftbegabter Geschöpfe am ewigen Gesetz, die wir als das natürliche Gesetz bezeichnen. [...]

Wie ein Mensch seinem Untergebenen durch Anweisung ein inneres Handlungsmotiv einprägt, so prägt Gott der gesamten Natur die Ursachen der jeweilig angemessenen Tätigkeit ein. Daher heißt es von Gott, dass er auf diese Weise der gesamten Natur gebietet - gemäß dem Wort des Psalmisten: »Er gab ein Gebot von ewiger Dauer.« Und aus diesem Grunde unterliegen jede Bewegung und jede Tätigkeit im Universum dem ewigen Gesetz. Das gilt selbst für die vernunftlosen Geschöpfe, die von der göttlichen Vorsehung bewegt werden, wenn auch auf andere Art als die vernunftbegabten Geschöpfe, die das göttliche Gebot verstehen können.
   Die Einprägung der inneren Wirkursache hat für die Dinge der Natur dieselbe Bedeutung wie die Verkündigung des Gesetzes für den Menschen, dem hierdurch ein gewisses Leitprinzip für sein Handeln gegeben wird. [...]

Ein Ding kann auf zweierlei Weise erkannt werden: entweder in sich selbst oder in seiner Wirkung, in der sich eine gewisse Ähnlichkeit zu ihm findet (wie man etwa die Sonne nicht als solche, sondern in ihren Strahlen erkennt). Daher muss gesagt werden, dass niemandem außer Gott und den Seligen, die Gott in seinem Wesen schauen, das ewige Gesetz in sich selbst zugänglich ist; dass es aber jedes vernunftbegabte Geschöpf aufgrund einer größeren oder geringeren Ausstrahlung erkennen kann. Denn jede Erkenntnis der Wahrheit ist Teilhabe an der Ausstrahlung jenes ewigen Gesetzes, das, wie Augustinus sagt, die unwandelbare Wahrheit ist. Die Wahrheit erkennen alle in irgendeiner Weise, zumindest soweit es die allgemeinen Grundsätze des natürlichen Gesetzes betrifft. Soweit es das übrige betrifft, haben die Menschen an der Wahrheit und an der Erkenntnis des ewigen Gesetzes in unterschiedlichem Maße Anteil. [...]

Die Vorschriften des natürlichen Gesetzes verhalten sich zur praktischen Vernunft ebenso wie die Letztprinzipien der Wissenschaft zur theoretischen Vernunft: Beide sind in sich evidente Grundsätze. In zweifacher Weise aber wird etwas als in sich evident bezeichnet, zum einen der Sache nach und zum anderen unserer Erkenntnis nach. Der Sache nach wird jeder Satz als in sich evident bezeichnet, dessen Prädikat zum Wesen seines Subjektes gehört. Gleichwohl mag ein solcher Satz jemandem nicht als in sich evident einleuchten, der die Definition des Subjektes nicht kennt. So ist zum Beispiel der Satz »Der Mensch ist vernunftbegabt« der Sache nach in sich evident, denn wer »Mensch« sagt, sagt auch »vernunftbegabt«; und doch leuchtet dieser Satz jemandem nicht als in sich evident ein, der das Wesen des Menschen nicht kennt. Daher gibt es, wie Boethius sagt, gewisse Axiome oder Sätze, die allen insgesamt als in sich evident einleuchten. Und zwar sind das solche Sätze, deren Begriffe alle kennen, wie der Satz »Das Ganze ist stets größer als seine Teile« oder »Zwei Dinge, die ein und demselben dritten Ding gleich sind, sind auch untereinander gleich«.
   Es gibt jedoch auch Sätze, die nur den Weisen, welche die Bedeutung der vorkommenden Begriffe verstehen, als in sich evident einleuchten. Wer zum Beispiel versteht, dass ein Engel kein körperliches Wesen ist, dem leuchtet es auch als in sich evident ein, dass ein Engel sich nicht an einem räumlich umschriebenen Ort aufhält - eine Einsicht, die den Ungebildeten, die das nicht verstehen, abgeht. [...]

Hinsichtlich der ersten, allgemeinen Grundsätze ist das natürliche Gesetz für alle dasselbe, sowohl was seine Richtigkeit als auch was seine Kenntnis betrifft. Und auch hinsichtlich gewisser Einzelheiten, die gleichsam Folgerungen aus den allgemeinen Grundsätzen sind, ist es in den meisten Fällen, wiederum was seine Richtigkeit und seine Kenntnis betrifft, für alle dasselbe. In einer Minderzahl von Fällen dagegen kann das natürliche Gesetz sich als unzureichend erweisen. Und zwar gilt das in bezug auf seine Richtigkeit deshalb, weil besondere Hinderungsgründe auftreten können - wie es ja auch bei den dem Entstehen und Vergehen unterliegenden Dingen der Natur gelegentlich Anomalien gibt. Und es gilt in bezug auf seine Kenntnis, weil manche Menschen infolge einer Leidenschaft oder einer schlechten Gewohnheit oder Veranlagung eine verdorbene Vernunft besitzen. So hielten zum Beispiel, wie Julius Cäsar berichtet, die alten Germanen Raub nicht für verboten, obschon dieser eindeutig gegen das natürliche Gesetz verstößt. [...]

Alles das, wozu der Mensch eine natürliche Neigung besitzt, erfasst die Vernunft ohne weiteres als gut und folglich als erstrebenswert, sein Gegenteil jedoch als schlecht und vermeidenswert. Entsprechend der Ordnung der natürlichen Neigungen gibt es demnach eine Ordnung der Vorschriften des natürlichen Gesetzes. Zunächst einmal besitzt der Mensch eine natürliche Neigung, die er mit allen selbständigen Wesen teilt, nämlich die Neigung zur Selbsterhaltung; und dieser Neigung entsprechend umfasst das natürliche Gesetz alles das, was der menschlichen Lebenserhaltung dient und ihr Gegenteil verhindert. Zweitens besitzt der Mensch eine natürliche Neigung speziellerer Art, die er mit den anderen Wesen des Tierreiches teilt; dieser Neigung entsprechend bezeichnet man das als natürliches Gesetz, was die Natur alle Tiere gelehrt hat, etwa Paarung, Aufzucht von Nachwuchs und ähnliches. Und drittens besitzt der Mensch eine natürliche Neigung, die ihm allein als Vernunftwesen eigen ist - etwa die Neigung, die Wahrheit über Gott zu erkennen und in Gemeinschaft zu leben; dieser Neigung entsprechend gehört es zum natürlichen Gesetz, dass der Mensch die Unwissenheit meidet, dass er seinen Mitmenschen, mit denen er zusammenleben muss, keinen Schaden zufügt, und ähnliches, was damit zusammenhängt. [...]

Tötung eines Unschuldigen sowie Ehebruch und Diebstahl verstoßen gegen das natürliche Gesetz. Nun könnte man argumentieren, dass Gott diese Vorschriften außer Kraft gesetzt hat. Denn er befahl dem Abraham, seinen unschuldigen Sohn zu töten; den Juden, den Ägyptern die geborgten Gefäße zu entwenden; und dem Hosea, sich eine Dirne zu nehmen. [...]

Ausnahmslos alle Menschen, ob schuldig oder unschuldig, müssen von Natur aus sterben. Diesen natürlichen Tod hat Gott in seiner Macht wegen der Erbsünde verhängt, getreu dem Bibelwort: »Der Herr tötet und macht lebendig«. Deswegen kann Gottes Befehl jedem beliebigen Menschen, ob schuldig oder nicht, ohne jede Ungerechtigkeit den Tod bringen. Entsprechend besteht Ehebruch im Geschlechtsverkehr mit einer Frau, die nach dem von Gott gegebenen Gesetz einem anderen vermählt ist. Wer daher auf göttlichen Befehl mit einer Frau Geschlechtsverkehr hat, kann weder Ehebruch noch Unzucht begehen. Das gleiche Argument schließlich gilt für den Fall des Diebstahls, das heißt der Wegnahme fremden Eigentums: Wer eine Sache auf Befehl Gottes, des Herrn aller Dinge, wegnimmt, nimmt sie nicht ohne Willen ihres Eigentümers weg (und nur das wäre ja Diebstahl). Nicht nur im menschlichen Bereich ist alles, was Gott gebietet, ohne weiteres gerecht; auch im natürlichen Bereich muss alles, was Gott bewirkt, als der Natur entsprechend gelten. [...]

Vollkommene Tugend besteht vor allem darin, sich von aller unerlaubten Lust fernzuhalten. Die Menschen haben eine starke Neigung zu solcher Lust, vor allem die Jugend, auf die freilich disziplinarische Maßnahmen noch größere Wirkung ausüben. Deshalb müssen sich die Menschen einer Disziplinierung durch andere unterwerfen, die sie zur Tugend bringt. Was nun jene jungen Menschen betrifft, die - sei es aus guter Veranlagung oder Gewohnheit, sei es, besser noch, aus göttlicher Gnade - zu tugendhaftem Handeln neigen, so reicht die väterliche Disziplin aus, die durch Ermahnung erfolgt. Es gibt aber Jugendliche, die mutwillig sind und zum Laster neigen. Sie lassen sich durch Worte nur schwer beeinflussen; man muss sie vielmehr durch Gewalt und Drohung vom Bösen abhalten, damit sie wenigstens ihr schlimmes Handeln aufgeben und ihre Mitmenschen in Frieden lassen. Durch Gewöhnung können sie schließlich dahin gelangen, dass sie freiwillig tun, was sie zuvor aus Furcht taten, und so tugendhaft werden. Diese Disziplin, die auf Furcht vor Strafe beruht, ist die Disziplin der Strafgesetze. Um des zwischenmenschlichen Friedens und der Tugend willen war es also notwendig, dass solche Gesetze erlassen wurden. [...]

Wie wir schon sahen, kann man ein Gesetz als einen Plan definieren, der Handlungen auf ein Ziel ausrichtet. Bei jeder Kette von Bewegungen aber ist es notwendig, dass die Antriebskraft des Zweitbewegers sich von der Antriebskraft des Erstbewegers herleitet; denn nur auf diese Art kann der Zweitbeweger in Aktion treten. Dasselbe nun gilt für ein Regierungssystem: Die Regierungsautorität wird von dem obersten Regenten auf die untergeordneten Instanzen übertragen. So beruhen die staatlichen Verwaltungsmaßnahmen auf einem Befehl des Königs an die unteren Verwaltungsbehörden. Und auch im Bereich der Baukunst geht der eigentliche Bauplan vom Architekten auf die untergeordneten Handwerker über.
   Da nun also das ewige Gesetz der Regierungsplan in der Vorstellung des obersten Herrschers des Universums ist, müssen alle Regierungsentwürfe untergeordneter Stellen sich von diesem ewigen Gesetz herleiten. Unter diese Kategorie abgeleiteter Regierungsweisen aber fallen sämtliche Gesetze außer dem ewigen Gesetz selbst. Sie alle lassen sich, soweit sie an der rechten Vernunft teilhaben, auf das ewige Gesetz zurückführen. Deshalb sagt Augustinus: »Nichts an einem irdischen Gesetz ist gerecht und anerkennenswert, was die Menschen nicht aus dem ewigen Gesetz hergeleitet haben.« [...]

Das menschliche Gesetz besitzt insoweit die Autorität eines Gesetzes, als es der rechten Vernunft gemäß ist und sich aus dem ewigen Gesetz herleitet. Insoweit es dagegen von der rechten Vernunft abweicht, nennt man es ein ungerechtes Gesetz; es hat nicht den eigentlichen Charakter eines Gesetzes, sondern ist Ausdruck von Gewalt. Doch selbst in einem ungerechten Gesetz bleibt insofern ein Teil des Gesetzescharakters erhalten, als es von einem ordnungsgemäßen Gesetzgeber erlassen wurde und sich in dieser formellen Hinsicht auf das ewige Gesetz zurückführen lässt. Denn alle Gewalt ist von Gott dem Herrn, wie es im Römerbrief des Apostels Paulus heißt. [...]

Mit Augustinus wird man sagen müssen, dass ein ungerechtes Gesetz gar kein Gesetz ist. Ein Gesetz besitzt deshalb nur in dem Maße Geltungskraft, in dem es der Gerechtigkeit genügt. Im menschlichen Bereich aber nennen wir etwas gerecht, wenn es der Regel der Vernunft entspricht. Und die erste Regel der Vernunft ist das natürliche Gesetz, wie aus dem oben Gesagten hervorgeht. Daher hat jedes von Menschen erlassene Gesetz insoweit Gesetzeskraft, als es sich vom natürlichen Gesetz herleitet. Sofern es jedoch in irgendeiner Hinsicht vom natürlichen Gesetz abweicht, ist es nicht mehr ein Gesetz, sondern die Entartung eines solchen. [...]

Die von Menschen erlassenen Gesetze sind entweder gerecht oder ungerecht. Sind sie gerecht, so binden sie das Gewissen, weil sie sich vom ewigen Gesetz herleiten - entsprechend dem Bibelwort: »Durch mich regieren die Könige und fassen die Gesetzgeber gerechte Beschlüsse.« Es gibt aber drei Gesichtspunkte, unter denen Gesetze als gerecht bezeichnet werden: vom Ziel her, wenn sie auf das Gemeinwohl hingeordnet sind; vom Urheber her, wenn ihr Erlass im Rahmen seiner Kompetenzen liegt; und von der Form her, wenn sie für das Gemeinwohl den Untertanen verhältnismäßig gleiche Lasten auferlegen. Denn da das Individuum Teil einer Gruppe ist, gehört jeder Mensch mit dem, was er ist und was er hat, zur Gemeinschaft - ebenso wie jeder Teil von etwas seine Bedeutung aus dem Ganzen erfährt. Deswegen lässt auch die Natur den einzelnen Teil Schaden nehmen, um das Ganze zu retten. Aus diesem Grunde sind solche Gesetze gerecht, die die Lasten gleichmäßig verteilen; sie sind ordnungsgemäßer Natur und binden das Gewissen.
   Ungerecht aber können Gesetze auf zweierlei Weise sein. Erstens können sie ungerecht sein, indem sie im Gegensatz zum menschlichen Wohl stehen und damit den oben genannten Bedingungen für gerechte Gesetze nicht genügen: sei es vom Ziel her, wenn ein Herrscher seinen Untertanen Lasten auferlegt, die anstatt dem gemeinsamen Nutzen der eigenen Hab- oder Ruhmsucht dienen; sei es vom Urheber her, wenn jemand ein Gesetz erlässt, das seine Kompetenzen überschreitet; oder sei es von der Form her, wenn etwa gewisse Lasten zwar im Interesse des Gemeinwohls liegen, jedoch ungleichmäßig auf das Volk verteilt sind. Das alles sind Gewaltmaßnahmen, aber keine Gesetze. Denn, wie Augustinus sagt: »Ein ungerechtes Gesetz ist gar kein Gesetz.« Derartige Gesetze sind deshalb für das Gewissen nicht verbindlich, außer wenn es um die Vermeidung von Ärgernis oder öffentlicher Unruhe geht. Denn aus einem Grund dieser Art muss der Mensch überhaupt auf sein Recht verzichten, gemäß dem Schriftwort bei Matthäus: »Wer dich nötigt, eine Meile weit zu gehen, mit dem geh noch die zweite; und wer dir deinen Rock nehmen will, dem gib auch noch den Mantel.«
   In einer zweiten Weise können Gesetze ungerecht sein, indem sie göttliche Rechte verletzen. Das trifft etwa auf Gesetze von Tyrannen zu, die zum Götzendienst oder zu anderen Handlungen verleiten, die dem göttlichen Gesetz widersprechen. Solche Gesetze dürfen unter keinen Umständen befolgt werden. Denn, wie es in der Apostelgeschichte heißt: »Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.« [...]

Neben dem natürlichen Gesetz und dem menschlichen Gesetz war zur Lenkung des menschlichen Lebens ein göttliches Gesetz erforderlich. Denn durch das Gesetz wird der Mensch zu den ihm gemäßen Handlungen und damit zu seinem eigentlichen Ziel hingeleitet. Wäre der Mensch nur für ein Ziel bestimmt, das seine natürlichen Fähigkeiten nicht übersteigt, so bedürfte er außer dem natürlichen Gesetz und dem daraus abgeleiteten menschlichen Gesetz keiner weiteren bewussten Lenkung. Der Mensch ist jedoch bestimmt für das Ziel der ewigen Seligkeit, die über seine natürlichen Fähigkeiten hinausgeht. Deshalb muss er außer durch das natürliche und das menschliche Gesetz auch noch durch ein göttliches Gesetz auf sein Ziel hingeleitet werden.