Arnold Gehlen (1904-1976):

Ein Bild vom Menschen

Mängelwesen und Prometheus

Man hat schon lange bemerkt, dass der Mensch, morphologisch angesehen, sozusagen einen Ausnahmefall darstellt. Die Fortschritte der Natur bestehen sonst in der organischen Spezialisierung ihrer Arten, also in der Ausbildung immer leistungsfähigerer natürlicher Anpassungen an bestimmte Umwelten. Ein tierischer Organismus „hält sich“ kraft seiner spezifischen Organisation in einem Gefüge von Bedingungen, in das er „eingepasst“ ist, ohne dass wir hier fragen wollen, wie diese Harmonie zustande kam. Sieht man nun den Menschen theoretisch unbefangen an, so bemerkt man einige Merkmale, die zunächst einmal nur aufgezählt seien.
   1. Er ist „organisch mittellos“, ohne natürliche Waffen, ohne Angriffs- oder Schutz- oder Fluchtorgane, mit Sinnen von nicht besonders bedeutender Leistungsfähigkeit, denn jeder unserer Sinne wird von den „Spezialisten“ im Tierreich weit übertroffen. Er ist ohne Haarkleid und ohne Anpassung an die Witterung, und auch viele Jahrhunderte Selbstbeobachtung haben ihn nicht belehrt, ob er nun eigentlich Instinkte hat und welche. Man hat dies schon lange bemerkt, und Herder (1772) sowie Kant (1784) haben darauf hingewiesen. Erst neuerdings aber ist unter Führung des verstorbenen Amsterdamer Anatomen Bolk eine Theorie zur Entwicklung gekommen, die alle besonderen menschlichen Baumerkmale unter dem Gesichtspunkt der „Primitivität“ begreift. Man versteht darunter einmal die Tatsache, dass gewisse Organbesonderheiten, wie das lückenlose Gebiss, die fünfgliedrige Hand und andere „archaisch“, d. h. entwicklungsgeschichtlich alt sein müssen, dass sie nur als Ausgangspunkte von Spezialisierungen verständlich sind, wie wir sie bei Großaffen (Herausentwicklung des Eckzahnes, Verkürzung des Daumens) finden; sodann die andere, dass weitere Besonderheiten (Haarlosigkeit, Schädelwölbung mit untergesetztem Gebiss, Struktur der Beckenregion usw.) als fixierte, dauerhaft gewordene Foetalzustände zu verstehen sind. Diese „Retardation“, der der Mensch einen sozusagen embryonischen Habitus verdankt, ist ein höchst wertvolles Erklärungsprinzip, weil sie auch andere menschliche Eigenheiten verstehen lässt, vor allem die unverhältnismäßig verlängerte Entwicklungszeit, die lange Hilflosigkeit der Kleinkindphase, die späte Geschlechtsreifung usw. Die Gesamtheit dieser Merkmale fasst man unter dem Begriff der „Unspezialisiertheit“ zusammen, und daher stammt die Berechtigung, den Menschen in einen beschreibenden und vergleichenden Gegensatz zum Tier zu bringen, vor allem zu seinen nächsten Verwandten, den ja sehr hoch spezialisierten Großaffen. Vergleicht man wissenschaftlich, d. h. undogmatisch, so wird man erwarten müssen, dass die Vorfahren des Menschen Großaffen von vergleichsweise sehr viel mehr „menschlichem“ Habitus als die jetzigen gewesen sind und dass diese ganze Entwicklungslinie durch die sonst nirgends vorhandene Herrschaft eines Prinzips bestimmt ist, das sich in viel geringerem Grade auch sonst finden lässt und das unter verschiedenen Bezeichnungen (Bolks Retardation, Schindewolfs Proterogenese) näherungsweise gefunden ist: eben ein „Festhalten“ entwicklungsgeschichtlich alter oder individualgenetisch früher, jugendlicher bzw. embryonaler Merkmale.
   2. Wir sehen weiter, wo wir auch hinblicken, den Menschen über die Erde verbreitet und trotz seiner physischen Mittellosigkeit sich zunehmend die Natur unterwerfen. Es ist dabei keine „Umwelt“, kein Inbegriff natürlicher und urwüchsiger Bedingungen angebbar, der erfüllt sein muss, damit „der Mensch“ leben kann, sondern wir sehen ihn Überall, unter Pol und Äquator, auf dem Wasser und auf dem Lande, in Wald, Sumpf, Gebirge und Steppe „sich halten“. Und zwar lebt er als „Kulturwesen“, d. h. von den Resultaten seiner voraussehenden, geplanten und gemeinsamen Tätigkeit, die ihm erlaubt, aus sehr beliebigen Konstellationen von Naturbedingungen durch deren voraussehende und tätige Veränderung sich Techniken und Mittel seiner Existenz zurechtzumachen. Man kann daher die „Kultursphäre“ jeweils den Inbegriff tätig veränderter urwüchsiger Bedingungen nennen, innerhalb deren der Mensch allein lebt und leben kann. Irgendwelche Techniken der Nahrungsbeschaffung und -zubereitung, irgendwelche Waffen, Organisationsformen gemeinsamer Tätigkeit und Schutzmaßnahmen vor Feinden, vor der Witterung usw. gehören daher zu den Beständen auch der primitivsten Kultur, und „Naturmenschen“, d. h. kulturlose gibt es überhaupt nicht.
   Man muss die Resultate dieser geplanten, verändernden Tätigkeit einschließlich der dazugehörigen Sachmittel, Denk- und Vorstellungsmittel zu den physischen Existenzbedingungen des Menschen rechnen, und diese Aussage gilt für kein Tier. Die Bauten der Biber, die Vogelnester usw. sind niemals voaussehend geplant und gehen aus rein instinktiven Betätigungen hervor. Den Menschen als Prometheus zu bezeichnen, hat daher einen exakten und guten Sinn.
   Wenn man bemerkt, dass die Kultursphäre des Menschen in der Tat eine biologische Bedeutung hat, so liegt es nahe, den für die Zoologie bewährten Begriff der Umwelt auch hier anzuwenden, wie es meistens geschieht. Aber es besteht doch ein wesentlicher Unterschied: ohne Zweifel muss man ja die organische Mittellosigkeit des Menschen und auf der anderen Seite seine kulturschaffende Tätigkeit aufeinander beziehen und als biologisch eng sich gegenseitig bedingende Tatsachen fassen. Von einer „Einpassung“ des Menschen in einen dieser Gattung von Natur her zugeordneten speziellen Komplex natürlicher Lebensbedingungen, wie dies im exakten Begriff der Umwelt gedacht wird, kann gar keine Rede sein. So wie sich die tierische, organische Spezialisierung und die ihr jeweils zugeschnittene Umwelt zueinander verhalten, so muss man die Unspezialisiertheit und morphologische Hilflosigkeit des Menschen in seiner Kultursphäre sehen. Da diese aber ein Inbegriff urwüchsiger Tatbestände ist, die der Mensch ins Lebensdienliche verändert hat, so gibt es von vornherein gar keine natürlichen Grenzbedingungen menschlicher Lebensfähigkeit, sondern nur technische Grenzbedingungen: nicht in der Natur, sondern in den Graden der Bereicherung und Verbesserung seiner kulturschaffenden Tätigkeit, zuerst der Denkmittel und Sachmittel, liegen die Grenzen menschlicher Ausbreitung.
   Der Mensch ist also organisch „Mängelwesen“ (Herder), er wäre in jeder natürlichen Umwelt lebensunfähig, und so muss er sich eine zweite Natur, eine künstlich bearbeitete und passend gemachte Ersatzwelt, die seiner versagenden organischen Ausstattung entgegenkommt, erst schaffen, und er tut dies überall, wo wir ihn sehen. Er lebt sozusagen in einer künstlich entgifteten, handlich gemachten und von ihm ins Lebensdienliche veränderten Natur, die eben die Kultursphäre ist. Man kann auch sagen, dass er biologisch zur Naturbeherrschung gezwungen ist.

Der Mensch - ein handelndes Wesen

Die bisher dargelegten Anschauungen, die ich an der genannten Stelle in umfassenden Einzeluntersuchungen begründet habe, bilden für weitere Fragestellungen sehr fruchtbare Ausgangspunkte. Man sieht nämlich, dass in diesem Schema die menschliche „Intelligenz“, die „Vernunft“, Denkkraft usw. durchaus berücksichtigt ist, aber sie erscheint hier sozusagen als hineinkomponiert in die biologischen Lebensbedingungen. Unsere Theorie enthält gar keine Ansätze zu einem „Dualismus“, sondern entgeht ihm (in einer erweiterten Formel Nietzsches) in dem Rückschluss vom Bewusstsein auf den, der es nötig hat.
   Fragt man, wodurch unser Schema in erster Linie charakterisiert ist, so wäre die Antwort: die physische, leibliche Seite des Menschen und seine innere, geistige können nur unter einer einzigen Bedingung sinnvoll zusammengedacht werden, wenn wir nämlich unter der biologischen Einsicht, wie ein Wesen sich hält und sein Dasein fristet, bemerken, dass sein intelligentes und voraussehendes Sichverhalten gerade durch bestimmte physische Eigenschaften erzwungen ist. Nur in voraussehender Veränderung der Natur ist ein organisch so beschaffenes Wesen lebensfähig. Man muss daher in den Mittelpunkt aller weiteren Probleme und Fragen die Handlung stellen und den Menschen als ein handelndes Wesen definieren - oder als ein voraussehendes oder kulturschaffendes, was alles dasselbe meint - und muss nun für weitere Forschungen so formulieren: Lassen sich, auf dem Hintergrund der bisher entwickelten Vorstellungen, auch die näheren, spezifisch menschlichen Leistungen und Eigenschaften von der Handlung und ihren sachlichen Bedingungen her verstehen? Der große Vorteil dieses Vorgehens ist der, dass wir empirisch behandelbare Fragen stellen und dass von Anfang an jede Veranlassung zu einem Dualismus vermieden wurde. In der Tat erweist sich dieser Ansatz als überaus fruchtbar, und um wenigstens anzudeuten, in welcher Weise sich die Fragen weiter entwickeln, gebe ich noch einige der wesentlichen Umrisse.
   Man kann einmal zeigen, dass in der Gesetzlichkeit der uns wahrnehmbaren Welt, der anscheinend ohne unser Zutun den Sinnen gegebenen Wirklichkeit, die menschliche physische Eigentätigkeit darinsteckt; die komplizierten Prozesse der Zusammenarbeit von Körperbewegung, Auge und tastender Hand lassen sich so weit analysieren, dass klar wird: der „unmittelbare“ Bestand der gegebenen Welt ist hochgradig durch unsere Eigentätigkeit vermittelt und geradezu ein Resultat. Am Ende dieser hier nicht entfernt darzustellenden Prozesse, welche den Hauptinhalt der Leistungen der frühen Kindheit ausmachen, steht jedenfalls die Tatsache, dass wir uns in einer optisch völlig übersehenen Welt befinden, deren Einzelheiten uns zwar durch Gestaltumrisse, Farbwerte, Größendifferenzen, Abschattungen, Verkürzungen usw. nur angedeutet (symbolisch gegeben) sind, jedoch so, dass uns die Umgangs- und Gebrauchswerte rein optisch mitgegeben werden, also die Trockenheit, Materialstruktur, Schwere, Entfernung, ja die „Handlichkeit“ der Dinge. Jedes Ding ist uns dabei aus eigenem früherem Umgang vertraut und potentiell verfügbar, aber es ist zugleich im Bereich eines Fernesinns distanziert und nur angedeutet, oberflächlich wahrgenommen (nie in seiner vollen möglichen Ausgiebigkeit), trotzdem diese Andeutungen hochsymbolisch verdichtet sind und auch, wie wir eben sahen, die möglichen Gebrauchswerte mitumfassen.
   Diese Struktur der uns umgebenden Welt-Übersehbarkeit, Dahingestelltsein der Einzelheiten bei doch vorhandener Intimität, nur oberflächliche und andeutungshafte Sichtbarkeit bei doch hocbsymbollscher „Bedeutung“ - ist im Grunde eben das, was die Philosophie immer unter dem Problem der Objektivität suchte, und sie ist eindeutig sinnvoll für ein Wesen, das, der offenen Weltfülle ausgesetzt und einer zweckmäßigen Auslese des Wahrnehmbaren, wie sie dem Tiere zukommt, entbehrend, sich doch in der Welt orientieren muss, und nicht nur dies, sondern sie auch in den Einzelheiten in die Hand bekommen muss, und dies alles in einer Verfügbarkeit auch für künftige Fälle. Das wird so erreicht, dass die Bewegungsübungen des unreifen Organismus in die Entwicklung seiner Wahrnehmungsleistungen eingebaut sind, so dass der Mensch „lernend wächst“, indem die Entdeckung des Sichtbaren nur tätig möglich ist und wieder die Entwicklung des Bewegungsvermögens von wechselnden Reihen sinnlicher Eindrücke begleitet und gefolgt ist. Am Ende jedenfalls steht ein Organismus, in dem ein ungemeiner Reichtum möglicher und „gekonnter“ Bewegungen darauf wartet, auf eine Andeutung hin einzuspringen, die die menschliche Umsicht und Vorsicht einer Welt mühelos übersehbarer, distanzierter und doch intimer Reize entnimmt. Der genaue Gegensatz dieser sehr mühsam entwickelten Fähigkeit ist die ebenso großartige Spezialisierung, mit der viele Tiere auf einen noch nie gesehenen, sehr besonderen Umwelteindruck mit einer angeboren fertigen, flüssigen und vollkommen zweckmäßigen Bewegungsfolge reagieren, wie etwa junge Graugänse auf die Silhouette des Raubvogels: die Instinkthandlung mit „angeborenem Schema“ (K. Lorenz).

Entlastungsfunktion der Sprache

Die hier kurz beschriebene Entwicklung wäre auch so zu kennzeichnen: die „Weltoffenheit“ des Menschen (Scheler) ist eigentlich, biologisch gesehen, ein negativer Sachverhalt. Dem Tier ist durch die Weisheit der Natur das abgeblendet, was nicht als Feind-, Beute-, Geschlechtszeichen usw. lebenswichtig zur Wahrnehmung kommen muss; oder in anderen Fällen wird in einem Wahrnehmungsfeld mit biologisch überflüssigen Inhalten doch nur das Gegenstand des Verhaltens, was triebbedeutsam ist und werden kann. Der Mensch aber ist einer Reizüberflutung ausgesetzt, einem biologisch nur dann verstehbaren Reichtum des Wahrnehmbaren, wenn man diesen in Beziehung setzt zu der Notwendigkeit, unter beliebigen, niemals angepassten und also in zufälligem Grade mannigfaltigen und verschiedenen Bedingungen Chancen für seine Tätigkeit finden zu müssen, von der er physisch lebt. Die damit gegebene Belastung wird nun, wie wir eben zeigten, von ihm selbsttätig überwunden, wenn es auch ein langer Weg ist, bis der mühelose Überblick erreicht ist, der Reichtum der Inhalte bekannt, das Können der Bewegung und Hantierung entwickelt und eingeübt. Wir können daher diese Entwicklungen auch als Entlastungsprozesse bezeichnen, und damit soll folgendes gemeint sein: der wechselseitige Einfluss, in dem die Bewegungserlernung und der Aufbau der Wahrnehmungswelt zueinander stehen, geht in der Richtung auf zunehmende Distanzierung von Mensch und Welt. Unser Verhalten wird immer mannigfaltiger, zugleich aber immer potentieller, ein bloßes „Können“, das Wahrgenommene zunehmend bloße Andeutung von möglicher Entwickelbarkeit, auf die wir uns meist gar nicht mehr einlassen.
   Diesen Prozess der Entlastung führt nun die Sprache geradlinig weiter, ja strenggenommen ist sie ja schon in ziemlich frühe Phasen desselben in ihren Anfängen eingeschaltet. Hierüber sei das folgende ausgeführt.
   Wenn man die Sprache einmal nicht von oben her, vom Begriff und vom Denken aus, sondern von der biologischen Seite ansieht, also einfach als Bewegung und als Klasse besonderer, sagen wir lautmotorischer Vollzüge, so ist zunächst zu sagen, dass der allgemeine und elementare biologische Zusammenhang zwischen Reiz und Reaktion auch hier vorhanden ist, denn das kleine Kind reagiert auf Eindrücke sehr bald in Lautbewegungen, und sein Tönebilden und Lautbewegen zeigt uns, dass jener allgemeine Zusammenhang durchaus vorhanden ist, nur sozusagen „abgeschoben“ in ein besonderes Organ, eben das lautmotorische oder Sprachorgan. Sprachlaute ersetzen beim kleinen Kinde zunehmend die Antwortreaktionen sonstiger körperlicher Art, und der Mensch kann eine Masse von Reizen akustischer oder optischer Herkunft, von denen er überschwemmt wird, rein lautmotorisch abreagieren, während sein Gesamtverhalten aus dem suggestiven Anstoß der Reizwelt herausgenommen ist, der das Tier in seiner Umwelt herumtreibt.
   Weil nun der Laut die außerordentliche Eigenschaft hat, zugleich Bewegung zu sein und, als gehörter, Bestandteil der Außen- und Wahrnehmungswelt, noch dazu eines Fernesinnes, so ist es möglich, sich in einer sehr mühelosen, leicht automatisierenden Bewegung auf eine Sache zu richten und sie darin gleichzeitig zu empfinden und zu „vernehmen“. Indem die Lautbewegung auf den Reiz antwortet, schafft sie selbst das Symbol, das leicht mit jenem Reiz verschmilzt, sie empfindet dabei zugleich sich selbst und in dem einen Eindruck auch den anderen, im Laut auch das gesehene Ding. Das ist ein müheloser, hochgradig erleichterter und noch dazu schöpferischer Umgang mit den Dingen, weil die empfindbare Fülle der Welt wirklich vermehrt wird. So wird die Distanz noch einmal entscheidend vergrößert: zwischen unser Verhalten und die Wirklichkeit schiebt sich eine „Zwischenwelt“ aktiv gesetzter Symbolik. Die Welt der Tiere mit ihren hochgezüchteten Sinnen ist unvergleichlich enger, aber auch unvergleichlich dramatischer als unsere, nicht nur weil die Reize meist in Bewegung, oft in Panik umgesetzt werden, sondern auch deshalb, weil das Tier, stets ganz gegenwärtig und als Ganzes bewegt, auch immer in jede Situation seinen Vorrat von Trieben und Bedürfnissen, Erfahrungen und Gewohnheiten mit hineinzieht. Dagegen ist im „Ansprechen“ (Bezeichnen) der Dinge ein aktives Verhalten möglich, das nichts praktisch verändert, sondern eine entlastete, bloß empfindbare Bewegung ist - die Bedingung alles „theoretischen Verhaltens“. Soll es überhaupt etwas wie vorstellendes (vorsehendes), auf das Sosein der Dinge selbst gerichtetes Verhalten geben, so muss es auf einer eigenen, praktisch unwirksamen Bahn laufen und so darf nicht der ganze Organismus motorisch auf den Reiz eingehen, nicht immer die Totalität der Bedürfnisse mobilisiert werden.
   Durch diese einzigartige Tätigkeit, welche also zugleich die Dingreize bewegungsmäßig erledigt und das Symbol, den Laut schafft, in dem man sich auf sie richtet, und somit zugleich aktive und sinnlich empfangene Zuwendung ist, werden die Dingreize entdramatisiert, erledigt und ferngerückt, wird der „Anspruch“ derselben ein Minimum. Es ist eine alte Wahrheit, dass die Sprache die Dinge „bannt“, ihnen ihre Wirkungsmacht nimmt. Aber andererseits wächst ihnen ein sinnliches Plus durch unsere Eigentätigkeit zu, denn der Laut, mit dem wir den Eindruck begleiten, tritt ja als gehörter zu dem sinnlichen Stoff des optischen Eindrucks dazu; dadurch wird die Wirklichkeit, die so distanziert wird, doch wieder intim, ihre Inhalte werden weitgehend entmachtet, aber in den Umkreis unseres Daseinsgefühls eingewoben, hineingezogen in das Selbstgefühl des sinnlichen Eigenlebens: an ihren Namen treten die Dinge in unser lnneres. Ohne diese Anschauung wird es unverständlich, wie durch die Sprache der Welt eine durchaus phantastische Dramatik aufgeprägt wird, die die Wissenschaft später erst mühsam abträgt, mit Aktivum und Passivum, mit Geschlechtsphantasmen männlicher und weiblicher Worte, mit Metaphern und Bildern usw.
   Um die jetzt freigelegten Möglichkeiten zu ermessen, muss man erwägen, dass alle Laute ja beliebig verfügbar sind, d. h. dass sie in dem „dass“ ihres Zustandekommens nicht auf bestimmte Anregungen angewiesen sind: sie können ganz unabhängig vom tatsächlichen inhaltlichen Bestand der Situation hervorgebracht werden, was damit zusammenhängt, dass die Sprachbewegungen wie die Tast- und Gehbewegungen den empfindbaren Reiz selbst hervorbringen, der zu einer Fortsetzung der Bewegungen anreizt. Wenn aber, wie gesagt, Laute und Worte beliebig verfügbar sind, so kann man sich in diesen Symbolen auf irgendwelche gar nicht jetzt gegebene Dinge richten, an Nichtanwesendes sich erinnern, wodurch man, wie Schopenhauer sagt, „in Gedanken die Übersicht der Vergangenheit und Zukunft wie auch des Abwesenden erhält“. So von außen, von der Sprache her ansetzend, entwickelt sich das Denken allmählich zu seiner vollkommenen Unabhängigkeit vom Hier und Jetzt und damit erst zu seiner welthaften Bedeutung. Damit ist der Bannkreis des Unmittelbaren, in dem das Tier immer gefangen bleibt, gebrochen. Erinnerung des Gewesenen und damit bewusster Vergleich, Auswertung der Erfahrung in Hinsicht auf Erwartungen des Zukünftigen, Inrechnungstellen des Entfernten werden möglich, alle jene Leistungen, auf welchen eine planende, intelligent gesteuerte und nach der Zukunft hin gerichtete Tätigkeit beruht. Das jetzt und hier Vorhandene ist im menschlichen Verhalten fast immer bloßer Durchgangsbestand, bloßes Material, ihm wächst in unserem Denken die Verfügbarkeit zu, und jede beliebige Einzelheit des Vorgefundenen kann „vorstellend“ räumlich und zeitlich verlagert und mit jeder anderen kombiniert werden. Ob die Horde der Wilden im Baume schon das künftige Boot sieht oder ob Großvölker der Neuzeit Krieg führen um künftige Wohnräume, für künftige Geschlechter, es ist dieselbe „untierische“ Struktur ihres Verhaltens. Man kann sogar einfach den Menschen in höherem Grade ein vorstellendes als ein wahrnehmendes Wesen nennen, und gerade davon lebt er, denn er verhält sich mehr von den vorausgedachten und entworfenen Umständen her, als von den vorgefundenen und „wirklichen“. Mit diesen Bestimmungen ist das umrissen, was man die Weltoffenheit des Menschen nennen muss.
   Noch gar nicht angedeutet ist hier die ebenso entscheidende und schicksalsvolle Seite der Sprache als Verständigung und Mitteilung, weil wir eben nur das Verhältnis des Wortes zur Sache, zum gemeinten Gegenstand behandelten. Auch in dieser anderen Richtung wird die „Entlastung“, die immer steigende Indirektheit des Verhaltens zur Welt gefördert, denn wer in der Verständigung mit einem andern handelt, handelt gar nicht mehr, grob gesagt, aus seiner eigenen inneren Welt, sondern ebenso von den Vorstellungen und Motiven jenes anderen her wie der, der einem Befehl oder Ratschlag folgt.
   Es sind hiermit, wie ich wiederhole, natürlich nur wenige Thesen angedeutet worden, und vor allem die Sprache ist ja ein Gebiet von außerordentlicher innerer Reichhaltigkeit und aufschließender Kraft. Ihre Entwicklung aus mehreren, voneinander unabhängigen Wurzeln, ihre Rückwirkung auf die Differenzierung des Vorstellungs- und Phantasielebens - alles das muss hier ebenso unerörtert bleiben wie ein ganzes großes weiteres Kapitel: die Besonderheit des menschlichen Antriebslebens. Die lange gesehene Instinktarmut des Menschen steht mit der Unspezialisiertheit seines Gesamthabitus in ebenso engem Zusammenhang wie mit seiner Weltoffenheit: denn was sind, kurz gesagt, Instinkte anderes als angeborene Bewegungskoordinationen spezieller Art, deren ein so organmangelhaftes Wesen nur wenige hat. Und sofern Instinkte ja nur dann von höherer Zweckmäßigkeit sein können, wenn sie von vornherein auf sehr bestimmte, angepasste Umweltreize ansprechen, so kann auch in dieser Hinsicht der Mensch kein Instinktwesen sein, denn in seiner Lebenssituation garantiert nichts, dass er diesen Signalen überhaupt begegnet - der offenen Sphäre der Welt ausgesetzt, wie er ist. Dafür aber besteht im Menschen ein Überschuss unfestgelegter, erst im Laufe der Erfahrung und Auseinandersetzung mit der Welt zu orientierender Antriebskraft weit über das Quantum an Energie hinaus, das zur bloßen Fristung des Lebens notwendig wäre, und damit ein Verarbeitungs- und Disziplinierungszwang, ja ein Hemmungsbedürfnis, das man sehen und verstehen muss, wenn man zweierlei einbeziehen will, was wieder offensichtlich charakteristisch ist: einmal die ungeheure, unerschöpfliche gerichtete Antriebsenergie, mit der der Mensch das Gesicht der Erde durchfurcht hat, und sodann wieder das Gefährdete, Riskierte, Fragwürdige seiner Organisation - „die ganze Schwäche der sich selbst überlassenen, durch keine strengen Formen geschützten menschlichen Natur“ (Bachofen) - und damit also wieder die gebieterische Gewalt der Zuchtformen, der Sitten, Moralen und Strafen, der Herrschafts- und Führungsordnungen, der Gewalt des Leviathan, von dem geschrieben steht: „Meinst du, die Gesellschaften werden ihn zerschneiden, dass er unter die Kaufleute zerteilet wird?“ (Hiob 41, 25)
   Diese hier im Grundriss angedeutete Anschauung vom Menschen bis in die Einzelheiten zu sichern, ist die Aufgabe einer empirischen, die Resultate mehrerer Einzelwissenschaften verarbeitenden Philosophie, und wir erhoffen von ihr ein Bild des Menschen, das es uns möglich macht, uns darin auch wiederzuerkennen.